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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Comics: Stehende Figuren und massenhafte Verbreitung



Mick Baxter
07.07.2018, 02:49
Ich suche noch immer die Formulierung der Definition, auf die sich Alexander Braun bezieht:


Es gibt viele andere Kollegen, zu denen ich mich zähle, die den Begriff »Comic« enger fassen und die Entstehung des Mediums auf das Ende des 19. Jahrhunderts datieren, auf den ersten Auftritt von Richard Outcaults Yellow Kid. Dafür gibt es gute Gründe: zunächst die Aufhebung der räumlichen Trennung von Erzähltext und Illustration und damit verbunden, die Herausbildung von Sprechblasen, die eine Live-Unterhaltung im Bild suggerieren. Dazu kommen wiederkehrende Helden, sogenannte stehende Figuren, die die Leserbindung an eine Zeitung befördern. Vergleichbares kennt das 19. Jahrhundert nicht. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Schließlich kommen technische Innovationen dazu, wie Farbdruck in Form von Rotationspressen, die täglich eine Auflage in Millionenhöhe produzieren konnten. Für mich ist das ein ganz wesentlicher Aspekt: die enorme Erhöhung der Auflage. Erst dadurch wird der Comic zu einem Massenmedium und läutet das Zeitalter ein, in dem auch Bilder zur Konsum- und Wegwerfware werden.

Caulton Waugh schrieb 1947:

More particularly, comics usually have (1) a continuing character who becomes the reader's dear friend, whomhe looks forward to meeting day after day or Sunday afterSunday; (2) a sequence of pictures, which may be funnyor thrilling, complete in themselves or part of a longer story; (3) speech in the drawing, usually in blocks of lettering surrounded by »balloon« lines.

In "Comic Strips - Zur Theorie der Bildergeschichte" von Hans Dieter Zimmermann (Hrg.) findet man diese Definition:


Comic Strips lassen sich durch vier Merkmale definieren:Integration von Wort und Bild, wobei das Bild dominiert; Erzählen einer Geschichte, einer story, in mehreren Bildern; periodisches Erscheinen; feststehende Figuren.

Die Notwenigkeit von massenhafter Verbreitung finde ich erst in "Massenzeichenware – Die gesellschaftliche und ieeoligische Funktion der Comics" von Wiltrud Ulrike Drechsel, Jörg Funhoff und Michael Hoffmann, 1975:


Die Unsicherheit, die Comics auslösen, schlägt sich in den Versuchen nieder, sie zu beschreiben. Formaldefinitionen, wie sie die Comicliebhaber zunächst gegen die moralinsauren Verdikte der Comic-Verächter setzten, beschreiben Comics als periodisch erscheinende Bildergeschichten mit feststehenden Figuren und Sprechblasen-Dialogen, bei denen das Bild gegenüber dem Wort dominiert. Damit sind zwar wichtige Elemente des Mediums benannt, aber die Definition drückt sich am zentralen Tatbestand vorbei, daß nämlich Comics nur existieren können, weil es Produzenten gibt, die sie in riesigen Auflagen herstellen, und Käufer, die sie massenweise abnehmen; sie ignoriert geflissentlich, daß man Comics, deshalb weder ohne ihre Produzenten noch ohne ihre Käufer bestimmen kann.

Michael F. Scholz
08.07.2018, 16:37
Spannendes Thema. Für den deutschen Sprachraum habe ich mich daran auch schon versucht: »Comics« in der deutschen Zeitungsforschung vor 1945, in: Deutsche Comicforschung Bd. 11 (2015), Leipzig 2014, S. 59 – 84. Demnach können wir zum Thema schon recht zeitig etwas lesen: P. Richards, Zeichner und ”Gezeichnete”. Aus den Erinnerungen eines amerikanischen Zeichners und Journalisten. Berlin: Reflektor-Verlag 1912. Seine Gedanken entwickelt er später weiter, z.B. was "Massenauflage" angeht: P. Richards, Die lachende Kunst in Amerika. In: Illustrirte Zeitung Nr. 4208 (5.11.1925).
In den USA gibt es eine Vielzahl von Definitionen bereits vor 1947, so Übersichtswerke, Zeichenkurse, Zeitschriftenartikel (z.B. Briggs, Thorndike und natürlich Seldes).

Mick Baxter
14.07.2018, 01:38
Danke. P. Richards ist aber sicher nicht die Quelle, auf die sich die Vertreter der "Yellow-Kid-Theorie" (mit all ihren maßgeschneiderten Kriterien) stützen. Zumindest haben Drechsel/Funhoff/Hoffmann sicher nie etwas von ihm gehört.

Wenn also auch die Quelle immer noch nicht geklärt ist, so kann mann man doch schon mal feststellen, daß die Definition, die Bildfolgen, serielle Produktion, stehende Figuren, Sprechblasen und massenhafte Verbreitung einfordert, Fragen aufwirft.

Zunächst einmal: Was ist unter stehenden Figuren und massenhafter Verbreitung konkret zu verstehen? Alexander Braun spricht sogar von Massenmedium, was die Sache nicht klarer macht, denn es gibt unterschiedliche Begriffe von Massenmedien (und daß der Comic selber zum Massenmedium wurde und nicht etwa nur in Massenmedien erschien, ist nicht zwingend mehrheitsfähig).

Wann wird eine wiederkehrenee Figur zu einer stehenden Figur? Was bedeutet das bei einem Strip in Fortsetzungen? Werden die handelnden Personen schon mit der zweiten Folge zu stehenden Figuren oder erst bei einem zweiten Handlungsstrang? Sind also "Das Lied von Bernadette" und "Abenteuer zweier Ritterknaben" keine Comics, weil es keinen zweiten Handlungsstrang gibt (und analog auch alle Graphic Novels)?

Die andere Frage ist: Wofür taugt diese Definition? Kann man anhand ihrer Kriterien nur festlegen, seit wann es Comics gibt (also irgendwann zwischen 1894 und 1896), was nicht verwunderlich ist, schließlich wurde sie genau zu diesem Zweck gestrickt, oder kann man damit auch ganz konkret eine Bildgeschichte analysieren und einordnen?

Mick Baxter
13.08.2018, 08:34
Schade, keine Antworten.

Auch wenn immer noch nicht klar ist, woher das unheilvolle Zusammentreffen von abwegigen Kriterien stammt (Caulton Waugh hat in seinem Anforderungsprofil zwar die stehenden Figuren, aber nicht das periodische Erscheinen bzw. die massenhafte Verbreitung), so möchte ich doch auf eben dieses eingehen.

Ohne das Kriterium der Bildfolgen (die Caulton Waugh schon 1947 beschrieb: "Comics usually have [...] a sequence of pictures, which may be funny or thrilling, complete in themselves or part of a longer story), nennt Alexander Braun

• die Aufhebung der räumlichen Trennung von Erzähltext und Illustration
• die Herausbildung von Sprechblasen, die eine Live-Unterhaltung im Bild suggerieren
• wiederkehrende Helden, sogenannte stehende Figuren, die die Leserbindung an eine Zeitung befördern.
• eine Auflage in Millionenhöhe

Die ersten beiden Kriterien schließen bei Nichterfüllung viele beliebte Comics aus ("Prinz Eisenherz", MOSAIK, textlose Comics) und führen zu Unklarheiten bei langjährigen Serien, die mit UND ohne diese auftreten. Im übrigen ist bei fast allen Comics der Erzähltext von der Zeichnung getrennt, allerdings nur räumlich in "captions" und nicht technisch bedingt.

Die anderen beiden Kriterien haben nun mit den Zeichnungen selber nichts zu tun, was zur Folge hat, daß die Definition auf einzelne Comics nicht anwendbar ist. Denn ob eine Figur wiederkehrt, kann man nur bei Betrachtung mehrer, möglicherweise ALLER Arbeiten eines Künstlers beurteilen (und was, wenn ein anderer Zeichner die Figur aufgreift?). Und die Auflage läßt sich nur feststellen, wenn man eine Veröffentlichung vor sich liegen hat, nicht aber, wenn ein Original Gegenstand der Beurteilung ist. Außerdem schmerzt es jeden Comiczeichner, wenn seinen Arbeiten der Status "Comic" aufgrund fehlender Auflagenhöhe abgesprochen wird.

Eigentlich sollte ja ein Konsens bestehen, daß Comicoriginale auch Comics sind.

Eckart Sackmann
05.09.2018, 23:27
Alexander Braun weigert sich, die Definition von Comic, die er vor Jahrzehnten gehört hat, dem veränderten Forschungsstand anzupassen. Warum? Weil seine Reputation darauf beruht, dass er ein Spezialist der "Frühzeit der Comics" ist. Mit anderen Worten: Wenn er sein "Angebot" - und bei dem Ausstellungsmacher Braun kann man ja von einem kommerziellen Angebot sprechen - mit Einsetzen amerikanischer Zeitungscomics der Jahrhundertwende gleichsetzt, muss ihn alles, was andere aus vorhergehenden Zeiten als Comic benennen, diskreditieren. Also bleibt er, allem Wissen und allen Bekehrungsversuchen zum Trotz, stur dabei, der Comic habe erst um 1900 begonnen.

Ein Grund, den er immer wieder nennt, ist, man könne erst dann von Comic sprechen, wenn dieser Begriff auch im zeitgenössischen Sprachgebrauch gehandhabt wird. Damit meint er die Zeit um 1900. Blödsinn. Zum einen ist "comic" mit humoristisch zu übersetzen. In England gab es weit vor 1900 Magazine, die das Wort "comic" im Titel führten. Ein solches comic magazine entsprach dem deutschen Witzblatt. Zum anderen leitete sich Comic aus der Comic Section der US-Zeitungen ab, die aber anfangs nichts anderes waren als Humorbeilagen und keineswegs nur aus "Comics" bestanden. In Deutschland waren, wenn man so will, "Ulk" und "Eulenspiegel" solche comic sections.

Sprechblasen: Der früheste Sprechblasencomic, den ich kenne, ist aus dem ägyptischen Totenbuch des Hunefer (1300 v. Chr.). Hier handelt es sich nur um drei Szenen, aber bei der Berliner Eneide aus dem 13. Jahrhundert (siehe Deutsche Comicforschung 2013) erreicht ein Sprechblasencomic immerhin den Umfang einer heutigen "Graphic Novel".

Stehende Figuren: Der englische Ally Sloper von 1867 ist eine Stehende Figur, die Mitglieder der französischen Famille Fenouillard (1889) auch. Wenn Wilhelm Busch sein "Hans Huckebein, der Unglücksrabe" 1867/68 in der Zeitschrift "Über Land und Meer" in Fortsetzungen veröffentlichte, kann man auch hier von einer Stehenden Figur sprechen. Dasselbe gilt etwa für "Thaten und Meinungen des Herrn Piepmeyer" von Schröder/Detmold (1848/49), das zunächst nicht als Buch, sondern in Einzellieferungen (Heften) erschien. Das sind nur einige Beispiele.

Die von Braun geforderte Massenauflage erreicht heute kaum ein gedruckter Comic mehr (aber andererseits jeder Internetcomic). Sie war erst möglich nach Erfindung der Schnellpresse und anderer technischer Innovationen des 19. Jahrhunderts, aber das Postulat, ein Comic müsse ein Massenmedium sein, kam erst mit dem Gedanken auf, ein in hoher Auflage verbreiteter Comic erreiche Massen von Lesern, sei also auch geeignet, Massen von Lesern zu beeinflussen. Ein typischer Gedanke der 70er Jahre, der dem Kommunisten David Kunzle nur recht war (nichts gegen Kommunisten oder gegen David Kunzle).

Heute (spätestens seit McCloud) geht man nicht von der Verbreitungsform (Presse, Heft, Buch) aus, um einen Comic zu beschreiben, sondern von der künstlerisch/literarischen Form des Originals. Natürlich zeichnet ein Comiczeichner Comics; sie werden nicht erst durch den Abdruck in der BILD-Zeitung zu solchen. Ein Comic kann später in verschiedener Art und Weise das Publikum erreichen: als Strip in der Zeitung, als Sammlung von Strips im Buch oder Heft oder eben auch im Internet. Jedesmal erscheint er anders und ist anders zu bewerten, aber es bleibt immer ein Comic.

Alexander Brauns Versuch, einen Comic zu definieren, ist hoffnungslos altmodisch, setzt sich über alle Erkennnisse hinweg und dient nur dazu, das eigene Denkmal zu zementieren.

eck@rt=

Mick Baxter
06.09.2018, 01:13
Unterstelle Alexander doch bitte keine unlauteren Absichten, wenn er auf einer Definition besteht, die einen seiner beiden Berufe, nämlich den des Ausstellungsmachers, obsolet macht. Denn was stellt er eigentlich aus, wenn die Originale gar keine Comics sind? Zumindest segeln dann die Ausstellungen unter falscher Flagge und müßten z.B. "Das Jahrhundert der Druckvorlagen" oder "Pioniere der Druckvorlagen" heißen.

Daß ein Comic Sprechblasen haben müsse, haben auch Lambert Wiesing und Bernd Dolle-Weinkauff postuliert. Braun gibt immerhin zu, daß "The Yellow Kid" kein Comic ist.

Lukas Wilde ist leider noch die Erklärung schuldig, welchen Sinn es hätte, Comics mit anderen Kriterien als den formalen zu definieren wie etwa Rezeption.

Eckart Sackmann
06.09.2018, 12:29
Soll ich es dann Dummheit nennen, wenn Alexander mit seinem schwammigen Begriff von Comic nicht weit kommt? Außerdem stellt er ja nicht nur Originale aus ("Kunst"), sondern auch gedruckte Seiten. Ich selbst würde allerdings viel weiter gehen und auch Reproduktionen von gedruckten Seiten ausstellen. Dann ist der Anspruch vielleicht ein pädagogischer, aber man kann auch ins Museum gehen, ein Kunsterlebnis erfahren (wie auch immer) und nebenbei was Nützliches lernen.

"The Yellow Kid" ist anfangs selten ein Comic, sondern zumeist ein Einzelbild. "daß "The Yellow Kid" kein Comic ist" stimmt pauschal allerdings nicht. Aber es ist ohnehin müßig, über diese Serie zu sprechen, die historisch nicht am Anfang der Form steht (wie ein paar Dummbatzen es wollten), sondern irgendwo mittendrin.

eck@rt=

Mick Baxter
06.09.2018, 16:25
Soll ich es dann Dummheit nennen, wenn Alexander mit seinem schwammigen Begriff von Comic nicht weit kommt? Außerdem stellt er ja nicht nur Originale aus ("Kunst"), sondern auch gedruckte Seiten. Ich selbst würde allerdings viel weiter gehen und auch Reproduktionen von gedruckten Seiten ausstellen. Dann ist der Anspruch vielleicht ein pädagogischer, aber man kann auch ins Museum gehen, ein Kunsterlebnis erfahren (wie auch immer) und nebenbei was Nützliches lernen.

"The Yellow Kid" ist anfangs selten ein Comic, sondern zumeist ein Einzelbild. "daß "The Yellow Kid" kein Comic ist" stimmt pauschal allerdings nicht. Aber es ist ohnehin müßig, über diese Serie zu sprechen, die historisch nicht am Anfang der Form steht (wie ein paar Dummbatzen es wollten), sondern irgendwo mittendrin.

eck@rt=

"The Yellow Kid", der anfangs gar nicht gelb, sondern blau war, spielt schon eine wichtige Rolle, weil durch ihn die Entwicklung der folgenden Jahre angestoßen wurde. Er steht auch Pate für das Kriterium "stehende Figur", denn er war zwar nicht der erste, der eine solche verwendete, aber an ihm konnte man den Unterschied zu früheren Einbildwitzen und Wimmelbildern festmachen. Nur war es dann eben ein Einbildwitz mit stehender Figur und kein Comic.

Ein sehr spezielles Beispiel für "stehende Figur" sind ja die Witzzeichnungen von Sepp Arnemann, der in jedem Bild eine kleine Maus versteckte.

Wenn man allerdings zu sehr in der Vergangenheit die Entstehung eines neuen Phänomens sucht, kann es so gehen wie beim Fußball, bei dem erklärt wird, die Chinesen hätten ihn erfunden. Nun ist aber sehr genau belegt, wie sich Fußball aus dem Rugby entwickelt hat, daß die Chinesen auch schon mal mit dem Fuß gegen einen Ball getreten haben, hat damit gar nichts zu tun.

Unregistriert
06.09.2018, 18:48
"The Yellow Kid", der anfangs gar nicht gelb, sondern blau war, spielt schon eine wichtige Rolle, weil durch ihn die Entwicklung der folgenden Jahre angestoßen wurde. Er steht auch Pate für das Kriterium "stehende Figur", denn er war zwar nicht der erste, der eine solche verwendete, aber an ihm konnte man den Unterschied zu früheren Einbildwitzen und Wimmelbildern festmachen. Nur war es dann eben ein Einbildwitz mit stehender Figur und kein Comic.

Ein sehr spezielles Beispiel für "stehende Figur" sind ja die Witzzeichnungen von Sepp Arnemann, der in jedem Bild eine kleine Maus versteckte.

Wenn man allerdings zu sehr in der Vergangenheit die Entstehung eines neuen Phänomens sucht, kann es so gehen wie beim Fußball, bei dem erklärt wird, die Chinesen hätten ihn erfunden. Nun ist aber sehr genau belegt, wie sich Fußball aus dem Rugby entwickelt hat, daß die Chinesen auch schon mal mit dem Fuß gegen einen Ball getreten haben, hat damit gar nichts zu tun.

Das verstehe, wer will. Ich will nicht :-)

eck@rt=

Stephan Packard
08.09.2018, 06:11
Was genau suchst Du hier? Braun sagt ja schon im ersten zitierten Satz, dass er sich auf viele verschiedene Quellen bezieht. Gemeinsam haben sie nach seiner Aussage nur, dass sie den Comic als ein Medium verstehen, dessen Entstehung auf das Ende des 19. Jahrhunderts festgelegt ist. Davon, dass es eine einzelne Quelle gibt, auf die sie sich alle beziehen, sagt er nichts.

Eckart Sackmann
08.09.2018, 17:13
Ich denke, es geht Burkhard nicht nur um Braun, sondern darum, den Ursprung älterer Definitionen zu finden. Wenn Alexander sich "auf viele verschiedene Quellen bezieht", so ist das nicht eben eine wissenschaftlich nachvollziehbare Aussage.

eck@rt=

Michael F. Scholz
08.09.2018, 19:23
Mir ist hier nicht mehr klar, worum es eigentlich geht, um die Definition oder um deren Geschichte.
Ich empfehle ein historisches Herangehen (wie in der Linguistik) - wann taucht der Begriff Comics (oder comic-strip) bei wem und warum auf, wie sieht die Definition aus, welche Inhalte (!) werden genannt, ab wann spielt Form eine Rolle. Ein solcher Überblick ist zwar aufwendig, doch, wenn wir uns zunächst auf die USA beschränken, überschaubar. Eine wichtige Quelle könnten hier die vielen Kurse (How to draw cartoons etc.) sein, die von Leuten der Praxis (Briggs u.a.) geschrieben wurden.
Interessant wird es dann, wenn wir die internationale Entwicklung betrachten.
Am Anfang waren die Cartoons ...
Für King Features ging es immer um die Ware, die sie an die Redaktionen verkauften; und da ist die Form Einzelpanel natürlich inbegriffen, denn das Medium ist bestimmend.
Um die amerikanischen Comics von den „cartoon-stories“ (und der europäischen Traditione) abzusetzen (bzw. den historischen Schritt nach vorn zu erklären), lag der Fokus dann auf der wiederkehrenden Figur.
Spätestens seit Mitte der 1930er Jahre wurde dann mit dem Begriff „Comics“ gehadert (oder eben mit der Weiterentwicklung der Comics).
Vielleicht ist hier ein Blick auf die Berufsvereinigungen der Comic Creators am Platz: The National Cartoonists Society (NCS): Among the members were syndicated panel cartoonists, freelance magazine cartoonists, sports and editorial cartoonists and even comic book artists. The organization's intentions were "to advance the ideals and standards of professional cartooning in its many forms", "to promote and foster a social, cultural and intellectual interchange among professional cartoonists of all types" and "to stimulate and encourage interest in and acceptance of the art of cartooning by aspiring cartoonists, students and the general public."
Mit der Anti-Comicdebatte (ab 1947!) wurde dann die Unterscheidung wichtig; da war es natürlich ein Problem, dass die Tages- und Sonntagsstreifen auch in Comic Books gesammelt erschienen, und die ebenso harter Kritik ausgesetzt waren.
Wenn es um Ausstellungen von Originalzeichnungen ging, wurde es immer ein Mix (ab 1948 meist zusammengestellt von NCS) von comic strip art, illustrations, political cartoons, gag or humorous cartoons.
Das hilft zwar nicht bei der Definition, macht aber vielleicht auch deutlich, wie abhängig die Definition vom jeweiligen Bedarf nach Abgrenzung war.

Eckart Sackmann
08.09.2018, 19:44
Dies ist nun gerade der Thread zu den Stehenden Figuren, Michael, aber was Definitionen angeht, hast du natürlich recht, dass man alle "Beschreibungen" des Comic historisch betrachten muss. Und nach dem Sprachraum: ein Cartoon ist in den USA was anderes als in Deutschland.

eck@rt=

Mick Baxter
08.09.2018, 20:52
Was genau suchst Du hier? Braun sagt ja schon im ersten zitierten Satz, dass er sich auf viele verschiedene Quellen bezieht. Gemeinsam haben sie nach seiner Aussage nur, dass sie den Comic als ein Medium verstehen, dessen Entstehung auf das Ende des 19. Jahrhunderts festgelegt ist. Davon, dass es eine einzelne Quelle gibt, auf die sie sich alle beziehen, sagt er nichts.

Ich kenne diese Defintion schon seit 40 Jahren, vielleicht nur aus Funhoff/Drechsel/Hoffmann, vielleicht steht sie auch in anderen Sekundärwerken dieser Zeit. Reinhold Reitberger z. B. führt in seiner Einleitung zum Ausstellungskatalog "Comics" von 1974 drei Kriterien auf:
• mehrere Bilder
• Text und Bild befinden sich innerhalb des Bildes
• es muß sich um eine Serie handeln

Da sind schon zwei von drei Kriterien höchst zweifelhaft.

Und wenn die Definition, die hier das Thema ist, nur eine ärgerliche historische Episode wäre, würde ich vielleicht achselzuckend darüber hinweggehen. Aber nun bekennen sich ja immer mehr Leute dazu (Braun, Bachmann, auch Packard hab ich im Verdacht), also vorwiegend Leute, die die "Erfindung der Comics" Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika sehen. Dazu wurde die Definition ja gemacht. Aber wenn man sie heute konkret anwenden will, kommt man zu keinem sinnvollen Ergebnis.

Stephan Packard
08.09.2018, 22:28
Aber nun bekennen sich ja immer mehr Leute dazu (Braun, Bachmann, auch Packard hab ich im Verdacht), also vorwiegend Leute, die die "Erfindung der Comics" Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika sehen. Dazu wurde die Definition ja gemacht.

Dann wollen wir den Verdacht mal ausräumen. Braun geht es an der zitierten Stelle nicht um eine komplette Definition des Comics, das sagt er ausdrücklich. Er bespricht dort die Frage, ob es für bestimmte Fragestellungen sinnvoll ist, sich die Entwicklung bestimmter Medien ab den Publikationen der ersten großen massenmedialen Tageszeitungsstrips aus New York im späten 19. Jahrhundert anzusehen. Das bejaht er, und das bejahe ich auch: Da findet eine sehr schnelle und seither sehr einflussreiche Entwicklung statt, die die späteren Produktionen und vieler Leute Vorstellungen stark geprägt hat. Wer das aber für ein Bekenntnis oder gar noch für ein Bekenntnis zu einer Definition hält, hat die Aussage missverstanden.

Viel sinnvoller, meine ich, als eine Definition festzurren zu wollen und ein für allemal zu entscheiden, ob zum Beispiel Massenmedialität zum Comic dazugehört, ist es, danach zu fragen, was sie für den Comic bedeutet. Man stelle sich etwa den folgenden Dialog vor:

A: Sag mal, ich höre, du machst Comics? Stimmt das?

B: Naja, ich hab ein paar Comics gezeichnet, sie sind aber nie publiziert worden.

Wer diese Antwort intuitiv verständlich findet, hat offenbar ein Konzept von Comics, das etwas mit massenmedialer Verbreitung zu tun hat. Er oder sie versteht nämlich, warum jemand meint, nicht publiziert zu werden schränke die Behauptung ein, man mache Comics. Das genauer zu erforschen, ist viel produktiver, als binär entscheiden zu wollen, ob das, was B gemacht hat, nun Comics heißen darf oder nicht.

Michael F. Scholz
09.09.2018, 00:10
Hier also zu den stehenden Figuren (und etwas Definition):

Clare A. Briggs (1926):
“The comic strip is the chief exponent of slap-stick humor. It is typically American, a real American institution. … There are good comic strips and bad ones. The best ones are in reality comedies of manners in picture form. … The comic strip differs from other cartoon work. It is based on one or two–or even more–characters who appear in the strip from day to day. … The idea of continuity is the basic principle in the comic strip.”

Frank F. Greene (1941) unterscheidet zwischen Theme Series (Hatlo's They'll Do Every Time) und Character Series (Polly and Her Pals)

Mick Baxter
09.09.2018, 07:13
Dann wollen wir den Verdacht mal ausräumen. Braun geht es an der zitierten Stelle nicht um eine komplette Definition des Comics, das sagt er ausdrücklich.
Ausdrücklich? Offenbar nicht so explizit, als daß das daraus hätte herauslesen können. Und ich hab ja auch per E-Mail mit ihm über die Frage kommunziert.


Es gibt Kollegen, wie den geschätzten Eckart Sackmann und dich offensichtlich auch, die definieren alle Erzählformen, die aus Bild und Text bestehen als Comic, somit auch alle Bilderbögen des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus Beispiele tief in die Menschheitsgeschichte zurück. Und es gibt viele andere Kollegen, zu denen ich mich zähle, die den Begriff »Comic« enger fassen und die Entstehung des Mediums auf das Ende des 19. Jahrhunderts datieren, auf den ersten Auftritt von Richard Outcaults Yellow Kid.

Es geht Braun also um den Begriff Comic, nicht um eine bestimmte Fragestellung.


Man stelle sich etwa den folgenden Dialog vor:

A: Sag mal, ich höre, du machst Comics? Stimmt das?

B: Naja, ich hab ein paar Comics gezeichnet, sie sind aber nie publiziert worden.

Wer diese Antwort intuitiv verständlich findet, hat offenbar ein Konzept von Comics, das etwas mit massenmedialer Verbreitung zu tun hat. Er oder sie versteht nämlich, warum jemand meint, nicht publiziert zu werden schränke die Behauptung ein, man mache Comics. Das genauer zu erforschen, ist viel produktiver, als binär entscheiden zu wollen, ob das, was B gemacht hat, nun Comics heißen darf oder nicht.
Das kannst du gerne erforschen, aber da du den Dialog nur imaginiert hast und jeder Comiczeichner weiß, daß das, was er gerade gezeichnet hat, ein Comic ist, auch bevor er veröffentlicht wurde (so wünschenswert das auch wäre), kommt vermutlich nichts dabei raus.

Mick Baxter
09.09.2018, 07:57
Was genau suchst Du hier? Braun sagt ja schon im ersten zitierten Satz, dass er sich auf viele verschiedene Quellen bezieht.
Das sagt er ja nun nicht auch nur im Ansatz. Er sagt, daß es Kollegen gibt, die das Gleiche meinen wie er. Weder sagt er, daß er sich auf diese Kollegen bezieht, noch, daß sie ihre Meinung schriftlich niedergelegt haben. Und schon gar nicht läßt sich da herauslesen, daß Braun sich das aus verschiedenen Quellen zusammengebastelt hat. Wenn diese Kollegen schon das Gleiche meinen, dann doch vermutlich in allen wesentlichen Punkten. Und da die vermutlich nicht alle Funhoff/Drechsel/Hoffmann gelesen haben, gibt es wohl eine andere Quelle, aus denen die alle geschöpft haben.

Und da es mir gar nicht um Braun geht, sondern um diese über 40 Jahre alte Definition, hätte ich gerne gewußt, wo die herkommt.

Mick Baxter
09.09.2018, 08:13
Mir ist hier nicht mehr klar, worum es eigentlich geht, um die Definition oder um deren Geschichte.
Es geht ausschließlich darum, daß es mehrere Definitionsansätze parallel gibt. Und ich habe mir einige angeschaut und habe Fragen dazu gestellt, auf die hier nur keiner eingegangen ist, weil es wichtiger ist zu erklären, daß Definitionen ja eh nur für einen bestimmten Zeck gut sind. Leider kann man den Zweck der existierenden Definitionen ja nur erraten. Die Definition in diesem Thread des Forum läßt allerdings den Verdacht aufkommen, daß sie nur so formuliert wurde, um "The Yellow Kid" als ersten Comic erscheinen zu lassen. Für alle anderen (zumindest für die, die die Verfasser kannten) gibt es alberne Ausschlußkriterien wie "stehende Figuren", "massenhafte Verbreitung" und "die Aufhebung der räumlichen Trennung von Erzähltext und Illustration" (letztere noch am wenigsten albern).

Die Fragen zu "stehende Figuren und massenhafte Verbreitung" sind:


Wenn also auch die Quelle immer noch nicht geklärt ist, so kann mann man doch schon mal feststellen, daß die Definition, die Bildfolgen, serielle Produktion, stehende Figuren, Sprechblasen und massenhafte Verbreitung einfordert, Fragen aufwirft.

Zunächst einmal: Was ist unter stehenden Figuren und massenhafter Verbreitung konkret zu verstehen? Alexander Braun spricht sogar von Massenmedium, was die Sache nicht klarer macht, denn es gibt unterschiedliche Begriffe von Massenmedien (und daß der Comic selber zum Massenmedium wurde und nicht etwa nur in Massenmedien erschien, ist nicht zwingend mehrheitsfähig).

Wann wird eine wiederkehrenee Figur zu einer stehenden Figur? Was bedeutet das bei einem Strip in Fortsetzungen? Werden die handelnden Personen schon mit der zweiten Folge zu stehenden Figuren oder erst bei einem zweiten Handlungsstrang? Sind also "Das Lied von Bernadette" und "Abenteuer zweier Ritterknaben" keine Comics, weil es keinen zweiten Handlungsstrang gibt (und analog auch alle Graphic Novels)?

Die andere Frage ist: Wofür taugt diese Definition? Kann man anhand ihrer Kriterien nur festlegen, seit wann es Comics gibt (also irgendwann zwischen 1894 und 1896), was nicht verwunderlich ist, schließlich wurde sie genau zu diesem Zweck gestrickt, oder kann man damit auch ganz konkret eine Bildgeschichte analysieren und einordnen?

Lukas Wilde
09.09.2018, 12:46
Das kannst du gerne erforschen, aber da du den Dialog nur imaginiert hast und jeder Comiczeichner weiß, daß das, was er gerade gezeichnet hat, ein Comic ist, auch bevor er veröffentlicht wurde (so wünschenswert das auch wäre), kommt vermutlich nichts dabei raus.
Nun sprichst Du aber der gesamten Diskussion hier jeglichen Sinn ab. Zuvor ging es noch darum, gemeinsam zu erörtern, was (aus welchen Gründen) ein "Comic" sein könnte, nun aber erklärst Du es als bereits entschieden - ein Comic ist "das, was jeder Comiczeichner weiß". Damit trittst Du aber aus dem Dialog aus. Das, was "jeder weiß", galt es doch gerade noch zu klären. Du vertrittst eine von vielen möglichen Positionen (eine andere hat Stephan gerade plausibilisiert), nun aber nicht mehr mit Argumenten, sondern über "common sense". So "common" ist dieser natürlich keineswegs, sonst würden diese Diskussionen nicht seit Jahrzehnten geführt, und sonst hättest Du wohl auch nicht zu dieser Unterhaltung aufgerufen. Auch daher ist Stephans aufschlussreicher Gedankengang sehr ernst zu nehmen.

Stephan Packard
09.09.2018, 13:44
Das sagt er ja nun nicht auch nur im Ansatz. Er sagt, daß es Kollegen gibt, die das Gleiche meinen wie er. Weder sagt er, daß er sich auf diese Kollegen bezieht,Offenbar verstehst Du das Wort anders. Sie zu erwähnen heißt für mich bereits, dass er sich auf sie bezieht. Mehr wollte ich damit gar nicht sagen.


noch, daß sie ihre Meinung schriftlich niedergelegt haben. Und schon gar nicht läßt sich da herauslesen, daß Braun sich das aus verschiedenen Quellen zusammengebastelt hat.Stimmt. Hat beides auch niemand behauptet, glaube ich.


Wenn diese Kollegen schon das Gleiche meinen, dann doch vermutlich in allen wesentlichen Punkten.Dafür sehe ich nicht den geringsten Grund. Warum sollte das so sein?


Und da die vermutlich nicht alle Funhoff/Drechsel/Hoffmann gelesen haben, gibt es wohl eine andere Quelle, aus denen die alle geschöpft haben.

Die Entwicklung der amerikanischen Tageszeitungsstrips ist ja einfach eine historische Tatsache. Ich sehe nicht, wieso zwei oder mehr Personen sie nur aus einer Quelle kennen sollten.

Stephan Packard
09.09.2018, 13:47
Es geht ausschließlich darum, daß es mehrere Definitionsansätze parallel gibt. Und ich habe mir einige angeschaut und habe Fragen dazu gestellt, auf die hier nur keiner eingegangen ist, weil es wichtiger ist zu erklären, daß Definitionen ja eh nur für einen bestimmten Zeck gut sind.Es ist deshalb wichtig, das zu erklären, weil es eine Reihe Deiner Fragen beantwortet.


Leider kann man den Zweck der existierenden Definitionen ja nur erraten.Warum? Wenn's (sinnvolle) Definitionen sind, steht der Zweck dabei. Man muss halt mehr als den einen Satz lesen, aber das tust Du ja.

Mick Baxter
10.09.2018, 00:40
Die Entwicklung der amerikanischen Tageszeitungsstrips ist ja einfach eine historische Tatsache. Ich sehe nicht, wieso zwei oder mehr Personen sie nur aus einer Quelle kennen sollten.

Immerhin nennt Braun das Kriterium der massenhaften Verbreitung, und warum sollte er das ausgerechnet aus "Massenzeichenware" kennen, das ist ja nun kein absolutes Standardwerk der Comicforschung? Ich vermute also, das gibt es auch an anderer Stelle zu lesen.

Und wer die Entwicklung der amerikanischen Tageszeitungsstrips mit der Erfindung der Comics gleichsetzt, hält Henry Ford wahrscheinlich für den Erfinder des Autos.