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ICOM Independent Comic Preis

Die Laudationes der Siegertitel

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Bester Independent Comic (Verlagspublikation)





"Diebe und Laien"
von Franz Suess
(Avant Verlag)

Dem Comic-Lesepublikum (und unserer Jury) ist der 1961 in Linz geborene Autor, Zeichner, Fotograf und Keramiker längst kein Unbekannter mehr. Ein 24-Stunden-Comic soll ihn 2010 inspiriert haben, es mit einer größeren graphic novel zu versuchen (liest man die ältesten auf seiner Website verfügbaren Comics nach, gewinnt man den Eindruck, dieser Künstler war damals längst angekommen, wo er hinwollte, seiner Stilmittel, Ansichten und Absichten vollkommen sicher). 2022 schaffte es "Ort (in Aspern)", die düstere Geschichte einer Gay-blind-date-Katastrophe, nach einhelligem Votum in die Vorauswahl des ICOM-Preises. Mit "Diebe und Laien" liegt nun ein Meisterwerk vor, ein veritabler Milieuroman in Bildern.

Suess schildert den Alltag, die Geheimnisse, das Glück und die Verzweiflung der Bewohner einer Vorstadt. Die Protagonisten, deren Gesichtern der Zeichner immer sehr nahe rückt – viele Großaufnahmen, als wolle er die Verletzungen im Minenspiel sichtbar machen –, sind keine strahlenden Siegertypen. Als Dienstleister, Rentner, kleine Beamte, Malocher und Studenten ertragen sie ihr Leben mehr, als dass sie es erleben – ein Alltag, der auf Kante genäht ist, eine Freiheit, die gerade mal zum Weiterexistieren reicht. Illustriert werden die sich verhängnisvoll kreuzenden Schicksale in großflächigen Bildern im Aquarell- und Schraffur-Stil, manchmal verschwommen wie durch eine versehentlich – bei normaler Sehkraft – aufgesetzte Plusbrille gesehen. Ein Erzählstil, der an Kinderbuchseiten erinnert, während die Geschichte für Erwachsene erzählt wird, mit nie mehr als vier Panels auf einer Seite, mit sparsamen Dialogen und seltenen, meist geringfügig erscheinenden, im Rückblick aber aber entscheidenden Details – wie das vermisste, händeringend gesuchte Objekt, um das sich doch alles drehen sollte, und das am Ende völlig unbeachtet im Gebüsch liegt und beinahe unserer Aufmerksamkeit entgeht.

Im letzten Drittel werden die düsterbunten Farben unversehens licht und kräftig, ein Intermezzo zeigt bei Tageshelle eine hundert Seiten zuvor in der Nacht ausgebrannte Glühlampe, die von Fliegen umschwirrt und für diese zum gläsernen Globus wird. Die Fragen, die sich an diese Szene knüpfen, bilden den Schlüssel für die auf eigentümliche Weise handlungsarme und nuancenreiche Story: Der transparente Erdkreis des Franz Suess ist von müden und sturen Verlierern bewohnt, die einander unbehaust umkreisen, durch Zufall begegnen und verlieren und nicht wiederfinden, und sich nur höchst selten anlächeln. Zugleich wird in den stillen Bildern dieser vier Geschichten behutsam ein Krimi entwickelt, den die Polizei nicht aufzuklären weiß, der von Verlusten und Liebesverrat, von grundlosem Argwohn und gegenseitiger Erpressung handelt. Das melancholisch-finstere Szenario, das auf den Krieg aller gegen alle hinauszulaufen scheint, wird am Ende ebenso plötzlich hell, wenn sich die Erkenntnis von der Menschlichkeit der "Laien" auf dieser kunstvoll ausgeleuchteten Bühne durchsetzt, und sich die Unschuld aller Beteiligten an diesem Diebesspiel erweist: Ein durchaus politischer, aber nicht anklagender, ein gegen die Gewalt- und Machtverhältnisse protestierender, aber nicht ideologisch vorgeprägter Comic, der sich auf das Abenteuer der genauen Beobachtung und Realitätsschilderung einlässt.

Nikolaus Gatter


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