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  1. #1

    Der Anlaß: Interview mit Alexander Braun

    Andreas Dierks führte mit Alexander Braun in Interview für das COMIC!-Jahrbuch 2018.

    Die folgende Passage habe ich weggelassen, um das Thema gesondert zu diskutieren (und die Thesen nicht unwidersprochen stehenzulassen).

    COMIC!: Warum verweist du in deinem Einleitungskapitel zu Pioniere des Comic mehrfach darauf, dass der Comic vor gut hundertzwanzig Jahren entstanden sei? Sogar in den USA gab es doch schon etwa 50 Jahre vorher Obadiah Oldbuck von Rodolphe Töpffer als Zeitungsbeilage? Auch in deiner Ansprache zur Eröffnung von Going West! hast du dem Comic nur ein Alter von »mehr als hundert Jahren« zugestanden, obwohl du doch im Wilhelm-Busch-Museum zu Gast warst? Und die Museumsdirektorin verzog dazu überraschender- und interessanterweise keine Miene.

    Alexander Braun: Jetzt weiß ich gerade gar nicht, ob ich noch mit Andreas Dierks rede oder schon mit Eckart Sackmann (lacht). Also, der Reihe nach: der Comic wurde in den USA erfunden, der Comic ist ca. 120 Jahre alt, Wilhelm Busch ist bestenfalls einer der (Vor)väter des Comics, der Comic entwickelte sich gemeinsam mit dem Film und dass die Pressemitteilung zu einer Ausstellung keinen wissenschaftlichen Diskurs ersetzt, liegt auf der Hand. Auch der neue Film von Tom Cruise wird über seinen Hauptdarsteller beworben und nicht über den womöglich exzellenten Kameramann. Das mag den Cineasten ärgern, aber das ist nun mal so. Und das Obadiah Oldbuck KEIN amerikanischer Comic ist, liegt auf der Hand, weil sein Zeichner Rodolphe Töpffer West-Schweizer war und die Geschichte im Original auf Französisch erschien. Sonst wäre Star Wars ja auch ein deutscher Film, weil ich ihn 1977 an meinem elften Geburtstag in einem deutschen Kino gesehen habe. Dass die Direktorin des Wilhelm-Busch-Museums Frau Vetter-Liebenow keine Miene verzogen hat, kann ich verstehen, weil sie Max und Moritz – wie ich auch – nicht für einen Comic, sondern für eine Bildergeschichte hält.

    COMIC!: Aber es wäre doch als erster Schritt zu erwarten, über den Tellerrand der eigenen Comicvorlieben, -formate, -genres, -herkunftsländer hinwegzusehen, um einen Blick auf das Ganze nehmen zu können. Das ist viel Arbeit. Kein Wunder, dass der Wikipedia-Artikel zum Begriff Comic auf eine Versionsgeschichte mit mehreren hundert Veränderungen zurückblickt. Schon die Diskussion mit Leuten, die ihre Comics »Bandes dessinées« (fr. »gezeichnete Streifen«) nennen, erweitern deren gesamtheitliche Auffassung locker um Beispiele aus mittelalterlichen Handschriften.

    Alexander Braun:Bei allem Respekt und aller Liebe zum Comic: Ich gehe davon aus, dass der Wikipedia-Eintrag zum Zweiten Weltkrieg mehr Korrekturen hat als der zum Comic und der zu Scientology, Massentierhaltung und Homöopathie nicht minder. Man muss nicht aus allem einen verbissenen Glaubenskrieg machen. Darum kürze ich ab: es gibt Kollegen, wie den geschätzten Eckart Sackmann und dich offensichtlich auch, die definieren alle Erzählformen, die aus Bild und Text bestehen als Comic, somit auch alle Bilderbögen des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus Beispiele tief in die Menschheitsgeschichte zurück. Und es gibt viele andere Kollegen, zu denen ich mich zähle, die den Begriff »Comic« enger fassen und die Entstehung des Mediums auf das Ende des 19. Jahrhunderts datieren, auf den ersten Auftritt von Richard Outcaults Yellow Kid. Dafür gibt es gute Gründe: zunächst die Aufhebung der räumlichen Trennung von Erzähltext und Illustration und damit verbunden, die Herausbildung von Sprechblasen, die eine Live-Unterhaltung im Bild suggerieren. Dazu kommen wiederkehrende Helden, sogenannte stehende Figuren, die die Leserbindung an eine Zeitung befördern. Vergleichbares kennt das 19. Jahrhundert nicht. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Schließlich kommen technische Innovationen dazu, wie Farbdruck in Form von Rotationspressen, die täglich eine Auflage in Millionenhöhe produzieren konnten. Für mich ist das ein ganz wesentlicher Aspekt: die enorme Erhöhung der Auflage. Erst dadurch wird der Comic zu einem Massenmedium und läutet das Zeitalter ein, in dem auch Bilder zur Konsum- und Wegwerfware werden. Jetzt können wir wiederum lange darüber streiten, wann ein Massenmedium zum Massenmedium wird. Reichen schon ein paar tausend Exemplare alle paar Wochen wie im 19. Jahrhundert? Oder dürfen es gerne zig Millionen pro Tag sein? Ich weiß nicht, was das mit persönlichen Vorlieben und Geschmack zu tun haben sollte, wie du unterstellst? Das ist schlichtweg eine unterschiedliche Einschätzung derselben historischen Fakten. Für mich sind das wesentliche, konstituierende Elemente, die das, was wir »Comic« nennen, von der Vorläufer-Modellen wie »Bilderzählung« oder »Bilderbogen« im 19. Jahrhundert unterscheidet. Und diese Entwicklung vollzieht sich nicht in Deutschland oder Frankreich, sondern in den großen Metropolen Nordamerikas. Du darfst das selbstverständlich anders sehen und alles »Comic« nennen, was aus Bild und Schrift besteht. Ich kann damit sehr gut leben und fühle auch nicht den Drang, dich zwanghaft belehren oder missionieren zu müssen. Aber ich nehme mir die Freiheit, diese Einschätzung nicht zu teilen. Das ist in anderen Kuturbereichen ja nicht anders. Der Begriff der »Oper« entsteht Ende der 1630er-Jahre in Venedig, wo auch das erste »Opernhaus« gegründet wurde. Dennoch gab es auch schon früher unzählige Beispiele von szenischen Singspielen, bis zurück in die Antike, nur dass diese nicht »Oper« genannt wurden und nicht jene Kriterien erfüllten, die im 17. Jahrhundert zum Begriff »Oper« geführt haben. Der Begriff »Impressionismus« etablierte sich um 1874 und war von dem Kritiker Louis Leroy eigentlich als Schmähung gemeint, nachdem er das Gemälde Impression – Sonnenaufgang von Claude Monet gesehen hatte. Seitdem bezeichnen wir jene Art von französischer Malerei am Ende des 19. Jahrhunderts, die mehr Interesse an Licht und Stimmung als am Inhalt eines Gemäldes hatte, als »Impressionismus«. Du kannst jetzt weit in die Kunstgeschichte in den Barock oder die Renaissance zurück gehen und nach Malern suchen, wie Claude Lorraine, die schon früher stark an Lichtstimmungen interessiert waren und diese »Impressionisten« nennen. Nur ist dein Umgang mit dem Begriff dann ein ahistorischer. Genauso verhält es sich mit dem Comic. Wenn du Wilhelm Busch im 19. Jahrhundert begegnet wärst und hättest gesagt, »ey Alter, geiler Comic dieses Max und Moritz« hätte er Dich mit großen Augen angesehen und hätte nicht gewusst, wovon Du sprichst. Die Bezeichnung »Comic« etablierte sich nunmal erst im frühen 20. Jahrhundert in den USA.

    COMIC!: Aber es führt bei dir zu dem Widerspruch, dass zum Beispiel das Nordamerika-Abenteuer in Prinz Eisenherz von Hal Foster als Beispiel für authentische Indianerdarstellung im Comic gerühmt, aber andererseits eine Sprechblase als unabdingbarer Bestandteil eines Comics verlangt wird. Nimmt man die Bedingung hinzu, Bild und Text müssten im Comic wechselwirken oder sich ergänzen, bleibt vieles wie Vater und Sohn oder Space Dog von Hendrik Dorgathen, die beide ganz ohne Worte auskommen, auf der Strecke.

    Alexander Braun:Die Würdigung der authentischen Darstellung der nordamerikansichen Ureinwohner in Prinz Eisenherz war u.a. Gegenstand meiner Going West!-Ausstellung. Dabei halte ich Prinz Eisenherz ebenso für einen Comic wie Vater und Sohn und Space Dog, obwohl sie überhaupt keinen Text haben. Auch die frühen Katzenjammer Kids sind mehr oder weniger textfreie Pantomime. Genauso wie The Little King von Otto Soglow meist ohne Text auskommt, und viele andere auch. Alles zweifellos Comics. Wenn sich Hal Foster aus künstlerischen Gründen dazu entschieden hat, den Text wie im 19. Jahrhundert unter die Bilder zu setzen statt in Sprechblasen, kann er das doch tun. Wo ist das Problem?

    COMIC!: Es entspricht nicht deiner Definition von Comic.

    Alexander Braun:Das stimmt nicht, das tut es sehr wohl, weil nämlich Prinz Eisenherz im Comic-Supplement einer Zeitung in Millionenauflage erschienen ist, weil er in Panels und in Reihen von »stehenden Figuren« erzählt. Du wirst von mir – wie du es gerade unterstellt hast – niemals eine Aussage finden, dass ich »die Sprechblase als unabdingbaren Bestandteil eines Comics verlange«. Das ist Unsinn. Ihr macht den Fehler, dass ihr krampfhaft ein Dogma postulieren wollt, eine Definition von Comic, die wie eine mathematische Formel funktioniert. Und weil das so schwierig ist, weil der Comic ein lebendiges Medium ist, wird es auf den kleinsten Nenner heruntergebrochen: Bild + Text = Comic. Diese Fixierung auf Definition ist aber a) ein weitgehend überflüssiges Unterfangen, eine reine Spiegelfechterei im Elfenbeinturm, die dann z.B. zwanghaft zu einer Jagd nach »der ersten Sprechblase« in der Geschichte führt, und b) ist es ein vollkommen ahistorischer Ansatz. Ich dagegen denke die Begrifflichkeit in historischen Kontexten, fließend und weich. Wann taucht der Begriff »Comic« auf? Wie sehen die Charakteristika zu dieser Zeit aus, als plötzlich so viele Menschen anfingen, etwas »Comic« zu nennen. Historische Begriffen, auf die wir uns verständigen, gehen nur selten auf punktuelle Erfindungen zurück, sondern sind Ausdruck einer Wirkungsgeschichte. Toll, das Rodolphe Töpffer so innovativ war, eine Vorform des Comics zu erschaffen. Toll, dass das sogar Goethe in die Hände fiel und er es mochte. Interessant, dass es jemand nach Amerika schleppte und dort in einer englischen Fassung unter dem Titel The Adventures of Mr. Obadiah Oldbuck in Umlauf brachte. Aber es war von Töpffer ja zunächst nicht einmal für eine Veröffentlichung vorgesehen. Es war ein privater Spaß für seinen Freundeskreis. Und als es dann doch auf Drängen der privaten Liebhaber gedruckt wurde, wurde es populär, aber es machte keine Schule. Niemand nannte es Comic und es wirkte nur äußerst begrenzt in seiner Zeit. Es schossen in Genf keine Nachahmer aus allen Löchern und es verlangte weder halb Europa noch halb Amerika gierig nach mehr von diesem Zeug, das der Töpffer da machte. Dieses Phänomen ereignete sich erst in den USA des späten 19. Jahrhunderts. Und von da an sprechen wir von Comics.

    COMIC!: Dass Comic nur ist, wenn er auch so heißt, dass Comic nur ist, wenn man ihn druckt, dass Comic in anderen Ländern auch "gezeichneter Streifen", "ich seh dich" oder "kleiner Rauch" heißt und trotzdem Comic ist, da bleibt uns glücklicherweise noch viel, dessentwegen wir uns treffen und ergiebig streiten können.

  2. #2
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    "der Comic wurde in den USA erfunden" - hier liegt genau das Problem! Alles muss sich dann auf amerikanische "Erscheinungen" beziehen, das sieht man in anderen Ländern nicht unbedingt so (Japan - Definition im Kyoto Comicmuseum). /Michael F. Scholz

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