Keineswegs, ich denke sogar, wir sind genau am Kern der Frage angekommen - Thread-übergreifend! Die Frage war und ist, was der "Gegenstand" sein soll, dessen "Comic-sein" wir beurteilen möchten und auf welcher ontologischen Seins-Ebene dieser überhaupt liegen sollte. Du hast dafür eine abstrakte Kategorie aufgemacht: "Der Comic selbst", eine Art "Substanz", die von weiteren hinzukommenden, eher zufälligen Eigenschaften unterschieden werden soll (etwa der Eigenschaft, in einer Serie mit "anderen Comics selbst" assoziiert zu sein). Du hast dieses "Übrige" genannt: "die Umgebung wie das Papier, der Computer, der Marmor, die Zeitung, das Internet oder Informationen aus anderen Quellen". Ich versuchte zu verstehen, worauf sich diese Substanz gründet, wo sie her kommt, wenn sie nicht in einer individuellen Materialität fundiert sein kann (die es etwa im Digitalen nicht gibt). Du hast das Kriterium der "Wahrnehmbarkeit" vorgeschlagen. Ich habe begründet, warum "Wahrnehmbarkeit" allenfalls ein notwendiges, keinesfalls aber ein hinreichendes Kriterium zur Konstitution dieser Substanz sein kann, und schon gar nicht, um das Attribut der Serialität auszuschießen.

Versuchen wir es mit einem anderen Beispiel. Wir wissen, was ein "Internet-Meme" ist, ja? Damit wir davon sprechen können, muss zunächst mal irgendein Gegenstand wahrnehmbar (zumeist sichtbar) sein - schön und gut! Es genügt aber nicht, ein "Meme selbst" anzuschauen um zu zu beurteilen, ob es ein Meme ist. Man kann ein "Meme selbst" nämlich gar nicht sehen. Es konstituiert sich erst, entsteht erst in der Serie. Es gibt nun keinerlei Grund dazu, den "Comic"-Begriff nicht ganz genauso zu definieren. Und dann muss ich in der Tat über die ganze Akira-Serie informiert sein, um zu beurteilen, ob es sich um einen "Comic selbst" handelt - weil es ihn "unterhalb" der Serie gar nicht gibt. Ein "Comic selbst" wird immer erst durch die Definition hervorgebracht - vorher ist es eine Summe von Eigenschaften von Situationen, Materialien, Ereignissen und Praxen, die man nur höchst selektiv (und damit interessensgeleitet und letztlich willkürlich) bestimmen kann. Du magst einwenden, Dir sei die "Serialität" nicht so wichtig. Das würde ich tendenziell sogar ganz ähnlich sehen (obgleich sich Comic-Einzelseiten in Museen, die aus ihren narrativen Zusammenhängen herausgerissen wurden, doch *sehr* weit vom Prototyp entfernt haben, selbst wenn sie einer formalen Definition entsprechen mögen)...

Es geht aber gar nicht darum, eine "richtige" gegen eine "falsche" Auffassung des "Comics selbst" zu ersetzen oder darüber zu streiten. Es gibt gar keine Grundlage, auf der man hier überhaupt für die eine oder andere Seite argumentieren könnte. Du kannst den Comic-Begriff ebenso auf Ebene der semiotischen Struktur (Bild-Sequenzialität) wie auf Ebene der Serie ansetzen (die im übrigen auch eine semiotische Struktur ist), oder auf einer Million anderer Ebenen ("stehende Figuren", "lustige Inhalte", "doppelte Prädikation", take your pick...). Es gibt für das eine wie für das andere, was "der Comic" selbst, was "die Umgebung" ist, keine Letztbegründung - diese Differenzierung ist Produkt einer Kunsttheorie oder einer Poetik, nicht Gegenstand einer Beschreibung. Der "Comic selbst" wird durch eine begriffliche Konstruktion - eben eine Vorstellung von einer bestimmten Art von "Werk", einer bestimmten Kunst- oder Mediengattung - überhaupt erst erzeugt. Es "gab" ihn nicht bereits zu Anbeginn der Zeiten in Platons Ideenhimmel.

Ich glaube, nun wiederhole ich mich aber langsam; und vermutlich ist das ja ohnehin eine der ältesten Diskussionen der Kulturgeschichte (von der Frage nach "dem Wesen der Bildhauerei" bis zum "Wesen des Films"). Da werden in den nächsten paar Jahrtausenden sicher nicht allzu viele unbekannte Argumente hinzu kommen... daher würde ich sagen: danke für die Eröffnung dieser Diskussion und den spannenden Austausch! Hoch lebe alles, was wir Comic nennen wollen! ;-)