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  1. #1

    Comics: Stehende Figuren und massenhafte Verbreitung

    Ich suche noch immer die Formulierung der Definition, auf die sich Alexander Braun bezieht:

    Es gibt viele andere Kollegen, zu denen ich mich zähle, die den Begriff »Comic« enger fassen und die Entstehung des Mediums auf das Ende des 19. Jahrhunderts datieren, auf den ersten Auftritt von Richard Outcaults Yellow Kid. Dafür gibt es gute Gründe: zunächst die Aufhebung der räumlichen Trennung von Erzähltext und Illustration und damit verbunden, die Herausbildung von Sprechblasen, die eine Live-Unterhaltung im Bild suggerieren. Dazu kommen wiederkehrende Helden, sogenannte stehende Figuren, die die Leserbindung an eine Zeitung befördern. Vergleichbares kennt das 19. Jahrhundert nicht. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Schließlich kommen technische Innovationen dazu, wie Farbdruck in Form von Rotationspressen, die täglich eine Auflage in Millionenhöhe produzieren konnten. Für mich ist das ein ganz wesentlicher Aspekt: die enorme Erhöhung der Auflage. Erst dadurch wird der Comic zu einem Massenmedium und läutet das Zeitalter ein, in dem auch Bilder zur Konsum- und Wegwerfware werden.
    Caulton Waugh schrieb 1947:
    More particularly, comics usually have (1) a continuing character who becomes the reader's dear friend, whomhe looks forward to meeting day after day or Sunday afterSunday; (2) a sequence of pictures, which may be funnyor thrilling, complete in themselves or part of a longer story; (3) speech in the drawing, usually in blocks of lettering surrounded by »balloon« lines.
    In "Comic Strips - Zur Theorie der Bildergeschichte" von Hans Dieter Zimmermann (Hrg.) findet man diese Definition:

    Comic Strips lassen sich durch vier Merkmale definieren:Integration von Wort und Bild, wobei das Bild dominiert; Erzählen einer Geschichte, einer story, in mehreren Bildern; periodisches Erscheinen; feststehende Figuren.
    Die Notwenigkeit von massenhafter Verbreitung finde ich erst in "Massenzeichenware – Die gesellschaftliche und ieeoligische Funktion der Comics" von Wiltrud Ulrike Drechsel, Jörg Funhoff und Michael Hoffmann, 1975:

    Die Unsicherheit, die Comics auslösen, schlägt sich in den Versuchen nieder, sie zu beschreiben. Formaldefinitionen, wie sie die Comicliebhaber zunächst gegen die moralinsauren Verdikte der Comic-Verächter setzten, beschreiben Comics als periodisch erscheinende Bildergeschichten mit feststehenden Figuren und Sprechblasen-Dialogen, bei denen das Bild gegenüber dem Wort dominiert. Damit sind zwar wichtige Elemente des Mediums benannt, aber die Definition drückt sich am zentralen Tatbestand vorbei, daß nämlich Comics nur existieren können, weil es Produzenten gibt, die sie in riesigen Auflagen herstellen, und Käufer, die sie massenweise abnehmen; sie ignoriert geflissentlich, daß man Comics, deshalb weder ohne ihre Produzenten noch ohne ihre Käufer bestimmen kann.

  2. #2
    Michael F. Scholz
    Gast

    Definitionsversuche

    Spannendes Thema. Für den deutschen Sprachraum habe ich mich daran auch schon versucht: »Comics« in der deutschen Zeitungsforschung vor 1945, in: Deutsche Comicforschung Bd. 11 (2015), Leipzig 2014, S. 59 – 84. Demnach können wir zum Thema schon recht zeitig etwas lesen: P. Richards, Zeichner und ”Gezeichnete”. Aus den Erinnerungen eines amerikanischen Zeichners und Journalisten. Berlin: Reflektor-Verlag 1912. Seine Gedanken entwickelt er später weiter, z.B. was "Massenauflage" angeht: P. Richards, Die lachende Kunst in Amerika. In: Illustrirte Zeitung Nr. 4208 (5.11.1925).
    In den USA gibt es eine Vielzahl von Definitionen bereits vor 1947, so Übersichtswerke, Zeichenkurse, Zeitschriftenartikel (z.B. Briggs, Thorndike und natürlich Seldes).

  3. #3
    Danke. P. Richards ist aber sicher nicht die Quelle, auf die sich die Vertreter der "Yellow-Kid-Theorie" (mit all ihren maßgeschneiderten Kriterien) stützen. Zumindest haben Drechsel/Funhoff/Hoffmann sicher nie etwas von ihm gehört.

    Wenn also auch die Quelle immer noch nicht geklärt ist, so kann mann man doch schon mal feststellen, daß die Definition, die Bildfolgen, serielle Produktion, stehende Figuren, Sprechblasen und massenhafte Verbreitung einfordert, Fragen aufwirft.

    Zunächst einmal: Was ist unter stehenden Figuren und massenhafter Verbreitung konkret zu verstehen? Alexander Braun spricht sogar von Massenmedium, was die Sache nicht klarer macht, denn es gibt unterschiedliche Begriffe von Massenmedien (und daß der Comic selber zum Massenmedium wurde und nicht etwa nur in Massenmedien erschien, ist nicht zwingend mehrheitsfähig).

    Wann wird eine wiederkehrenee Figur zu einer stehenden Figur? Was bedeutet das bei einem Strip in Fortsetzungen? Werden die handelnden Personen schon mit der zweiten Folge zu stehenden Figuren oder erst bei einem zweiten Handlungsstrang? Sind also "Das Lied von Bernadette" und "Abenteuer zweier Ritterknaben" keine Comics, weil es keinen zweiten Handlungsstrang gibt (und analog auch alle Graphic Novels)?

    Die andere Frage ist: Wofür taugt diese Definition? Kann man anhand ihrer Kriterien nur festlegen, seit wann es Comics gibt (also irgendwann zwischen 1894 und 1896), was nicht verwunderlich ist, schließlich wurde sie genau zu diesem Zweck gestrickt, oder kann man damit auch ganz konkret eine Bildgeschichte analysieren und einordnen?

  4. #4
    Schade, keine Antworten.

    Auch wenn immer noch nicht klar ist, woher das unheilvolle Zusammentreffen von abwegigen Kriterien stammt (Caulton Waugh hat in seinem Anforderungsprofil zwar die stehenden Figuren, aber nicht das periodische Erscheinen bzw. die massenhafte Verbreitung), so möchte ich doch auf eben dieses eingehen.

    Ohne das Kriterium der Bildfolgen (die Caulton Waugh schon 1947 beschrieb: "Comics usually have [...] a sequence of pictures, which may be funny or thrilling, complete in themselves or part of a longer story), nennt Alexander Braun

    • die Aufhebung der räumlichen Trennung von Erzähltext und Illustration
    • die Herausbildung von Sprechblasen, die eine Live-Unterhaltung im Bild suggerieren
    • wiederkehrende Helden, sogenannte stehende Figuren, die die Leserbindung an eine Zeitung befördern.
    • eine Auflage in Millionenhöhe

    Die ersten beiden Kriterien schließen bei Nichterfüllung viele beliebte Comics aus ("Prinz Eisenherz", MOSAIK, textlose Comics) und führen zu Unklarheiten bei langjährigen Serien, die mit UND ohne diese auftreten. Im übrigen ist bei fast allen Comics der Erzähltext von der Zeichnung getrennt, allerdings nur räumlich in "captions" und nicht technisch bedingt.

    Die anderen beiden Kriterien haben nun mit den Zeichnungen selber nichts zu tun, was zur Folge hat, daß die Definition auf einzelne Comics nicht anwendbar ist. Denn ob eine Figur wiederkehrt, kann man nur bei Betrachtung mehrer, möglicherweise ALLER Arbeiten eines Künstlers beurteilen (und was, wenn ein anderer Zeichner die Figur aufgreift?). Und die Auflage läßt sich nur feststellen, wenn man eine Veröffentlichung vor sich liegen hat, nicht aber, wenn ein Original Gegenstand der Beurteilung ist. Außerdem schmerzt es jeden Comiczeichner, wenn seinen Arbeiten der Status "Comic" aufgrund fehlender Auflagenhöhe abgesprochen wird.

    Eigentlich sollte ja ein Konsens bestehen, daß Comicoriginale auch Comics sind.

  5. #5
    Eckart Sackmann
    Gast
    Alexander Braun weigert sich, die Definition von Comic, die er vor Jahrzehnten gehört hat, dem veränderten Forschungsstand anzupassen. Warum? Weil seine Reputation darauf beruht, dass er ein Spezialist der "Frühzeit der Comics" ist. Mit anderen Worten: Wenn er sein "Angebot" - und bei dem Ausstellungsmacher Braun kann man ja von einem kommerziellen Angebot sprechen - mit Einsetzen amerikanischer Zeitungscomics der Jahrhundertwende gleichsetzt, muss ihn alles, was andere aus vorhergehenden Zeiten als Comic benennen, diskreditieren. Also bleibt er, allem Wissen und allen Bekehrungsversuchen zum Trotz, stur dabei, der Comic habe erst um 1900 begonnen.

    Ein Grund, den er immer wieder nennt, ist, man könne erst dann von Comic sprechen, wenn dieser Begriff auch im zeitgenössischen Sprachgebrauch gehandhabt wird. Damit meint er die Zeit um 1900. Blödsinn. Zum einen ist "comic" mit humoristisch zu übersetzen. In England gab es weit vor 1900 Magazine, die das Wort "comic" im Titel führten. Ein solches comic magazine entsprach dem deutschen Witzblatt. Zum anderen leitete sich Comic aus der Comic Section der US-Zeitungen ab, die aber anfangs nichts anderes waren als Humorbeilagen und keineswegs nur aus "Comics" bestanden. In Deutschland waren, wenn man so will, "Ulk" und "Eulenspiegel" solche comic sections.

    Sprechblasen: Der früheste Sprechblasencomic, den ich kenne, ist aus dem ägyptischen Totenbuch des Hunefer (1300 v. Chr.). Hier handelt es sich nur um drei Szenen, aber bei der Berliner Eneide aus dem 13. Jahrhundert (siehe Deutsche Comicforschung 2013) erreicht ein Sprechblasencomic immerhin den Umfang einer heutigen "Graphic Novel".

    Stehende Figuren: Der englische Ally Sloper von 1867 ist eine Stehende Figur, die Mitglieder der französischen Famille Fenouillard (1889) auch. Wenn Wilhelm Busch sein "Hans Huckebein, der Unglücksrabe" 1867/68 in der Zeitschrift "Über Land und Meer" in Fortsetzungen veröffentlichte, kann man auch hier von einer Stehenden Figur sprechen. Dasselbe gilt etwa für "Thaten und Meinungen des Herrn Piepmeyer" von Schröder/Detmold (1848/49), das zunächst nicht als Buch, sondern in Einzellieferungen (Heften) erschien. Das sind nur einige Beispiele.

    Die von Braun geforderte Massenauflage erreicht heute kaum ein gedruckter Comic mehr (aber andererseits jeder Internetcomic). Sie war erst möglich nach Erfindung der Schnellpresse und anderer technischer Innovationen des 19. Jahrhunderts, aber das Postulat, ein Comic müsse ein Massenmedium sein, kam erst mit dem Gedanken auf, ein in hoher Auflage verbreiteter Comic erreiche Massen von Lesern, sei also auch geeignet, Massen von Lesern zu beeinflussen. Ein typischer Gedanke der 70er Jahre, der dem Kommunisten David Kunzle nur recht war (nichts gegen Kommunisten oder gegen David Kunzle).

    Heute (spätestens seit McCloud) geht man nicht von der Verbreitungsform (Presse, Heft, Buch) aus, um einen Comic zu beschreiben, sondern von der künstlerisch/literarischen Form des Originals. Natürlich zeichnet ein Comiczeichner Comics; sie werden nicht erst durch den Abdruck in der BILD-Zeitung zu solchen. Ein Comic kann später in verschiedener Art und Weise das Publikum erreichen: als Strip in der Zeitung, als Sammlung von Strips im Buch oder Heft oder eben auch im Internet. Jedesmal erscheint er anders und ist anders zu bewerten, aber es bleibt immer ein Comic.

    Alexander Brauns Versuch, einen Comic zu definieren, ist hoffnungslos altmodisch, setzt sich über alle Erkennnisse hinweg und dient nur dazu, das eigene Denkmal zu zementieren.

    eck@rt=

  6. #6
    Unterstelle Alexander doch bitte keine unlauteren Absichten, wenn er auf einer Definition besteht, die einen seiner beiden Berufe, nämlich den des Ausstellungsmachers, obsolet macht. Denn was stellt er eigentlich aus, wenn die Originale gar keine Comics sind? Zumindest segeln dann die Ausstellungen unter falscher Flagge und müßten z.B. "Das Jahrhundert der Druckvorlagen" oder "Pioniere der Druckvorlagen" heißen.

    Daß ein Comic Sprechblasen haben müsse, haben auch Lambert Wiesing und Bernd Dolle-Weinkauff postuliert. Braun gibt immerhin zu, daß "The Yellow Kid" kein Comic ist.

    Lukas Wilde ist leider noch die Erklärung schuldig, welchen Sinn es hätte, Comics mit anderen Kriterien als den formalen zu definieren wie etwa Rezeption.

  7. #7
    Eckart Sackmann
    Gast
    Soll ich es dann Dummheit nennen, wenn Alexander mit seinem schwammigen Begriff von Comic nicht weit kommt? Außerdem stellt er ja nicht nur Originale aus ("Kunst"), sondern auch gedruckte Seiten. Ich selbst würde allerdings viel weiter gehen und auch Reproduktionen von gedruckten Seiten ausstellen. Dann ist der Anspruch vielleicht ein pädagogischer, aber man kann auch ins Museum gehen, ein Kunsterlebnis erfahren (wie auch immer) und nebenbei was Nützliches lernen.

    "The Yellow Kid" ist anfangs selten ein Comic, sondern zumeist ein Einzelbild. "daß "The Yellow Kid" kein Comic ist" stimmt pauschal allerdings nicht. Aber es ist ohnehin müßig, über diese Serie zu sprechen, die historisch nicht am Anfang der Form steht (wie ein paar Dummbatzen es wollten), sondern irgendwo mittendrin.

    eck@rt=
    Geändert von Unregistriert (06.09.2018 um 12:33 Uhr)

  8. #8
    Zitat Zitat von Eckart Sackmann Beitrag anzeigen
    Soll ich es dann Dummheit nennen, wenn Alexander mit seinem schwammigen Begriff von Comic nicht weit kommt? Außerdem stellt er ja nicht nur Originale aus ("Kunst"), sondern auch gedruckte Seiten. Ich selbst würde allerdings viel weiter gehen und auch Reproduktionen von gedruckten Seiten ausstellen. Dann ist der Anspruch vielleicht ein pädagogischer, aber man kann auch ins Museum gehen, ein Kunsterlebnis erfahren (wie auch immer) und nebenbei was Nützliches lernen.

    "The Yellow Kid" ist anfangs selten ein Comic, sondern zumeist ein Einzelbild. "daß "The Yellow Kid" kein Comic ist" stimmt pauschal allerdings nicht. Aber es ist ohnehin müßig, über diese Serie zu sprechen, die historisch nicht am Anfang der Form steht (wie ein paar Dummbatzen es wollten), sondern irgendwo mittendrin.

    eck@rt=
    "The Yellow Kid", der anfangs gar nicht gelb, sondern blau war, spielt schon eine wichtige Rolle, weil durch ihn die Entwicklung der folgenden Jahre angestoßen wurde. Er steht auch Pate für das Kriterium "stehende Figur", denn er war zwar nicht der erste, der eine solche verwendete, aber an ihm konnte man den Unterschied zu früheren Einbildwitzen und Wimmelbildern festmachen. Nur war es dann eben ein Einbildwitz mit stehender Figur und kein Comic.

    Ein sehr spezielles Beispiel für "stehende Figur" sind ja die Witzzeichnungen von Sepp Arnemann, der in jedem Bild eine kleine Maus versteckte.

    Wenn man allerdings zu sehr in der Vergangenheit die Entstehung eines neuen Phänomens sucht, kann es so gehen wie beim Fußball, bei dem erklärt wird, die Chinesen hätten ihn erfunden. Nun ist aber sehr genau belegt, wie sich Fußball aus dem Rugby entwickelt hat, daß die Chinesen auch schon mal mit dem Fuß gegen einen Ball getreten haben, hat damit gar nichts zu tun.

  9. #9
    Unregistriert
    Gast
    Zitat Zitat von Mick Baxter Beitrag anzeigen
    "The Yellow Kid", der anfangs gar nicht gelb, sondern blau war, spielt schon eine wichtige Rolle, weil durch ihn die Entwicklung der folgenden Jahre angestoßen wurde. Er steht auch Pate für das Kriterium "stehende Figur", denn er war zwar nicht der erste, der eine solche verwendete, aber an ihm konnte man den Unterschied zu früheren Einbildwitzen und Wimmelbildern festmachen. Nur war es dann eben ein Einbildwitz mit stehender Figur und kein Comic.

    Ein sehr spezielles Beispiel für "stehende Figur" sind ja die Witzzeichnungen von Sepp Arnemann, der in jedem Bild eine kleine Maus versteckte.

    Wenn man allerdings zu sehr in der Vergangenheit die Entstehung eines neuen Phänomens sucht, kann es so gehen wie beim Fußball, bei dem erklärt wird, die Chinesen hätten ihn erfunden. Nun ist aber sehr genau belegt, wie sich Fußball aus dem Rugby entwickelt hat, daß die Chinesen auch schon mal mit dem Fuß gegen einen Ball getreten haben, hat damit gar nichts zu tun.
    Das verstehe, wer will. Ich will nicht :-)

    eck@rt=

  10. #10
    Was genau suchst Du hier? Braun sagt ja schon im ersten zitierten Satz, dass er sich auf viele verschiedene Quellen bezieht. Gemeinsam haben sie nach seiner Aussage nur, dass sie den Comic als ein Medium verstehen, dessen Entstehung auf das Ende des 19. Jahrhunderts festgelegt ist. Davon, dass es eine einzelne Quelle gibt, auf die sie sich alle beziehen, sagt er nichts.

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