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Thema: Definition

Hybrid-Darstellung

  1. #1

    Definition

    In der Wissenschaft ist es eigentlich so, dass man Begriffe erst einmal willkürlich definieren kann, sich dann nur an seine eigene Definition halten muss. Das kann durchaus Sinn machen, wenn man z.B. den Gegenstand einer Untersuchung eingrenzen will. Etwas absurd kann das manchmal schon werden, denn ich habe mal eine Argumentation gelesen, dass Ulysses von James Joyce (800 Seiten in der deutschen Übersetzung) eine Kurzgeschichte wäre, weil er tatsächlich gewisse Strukturmerkmale einer Kurzgeschichte aufweist. Insofern sind kontextabhängige Definitionen okay. Abgesehen davon, dass wir Sexisten sind, hatten wir in der Jury aber dieses Jahr tatsächlich einige Male die Diskussion, ob das denn noch Comic ist. Lichtpause war (und ist) für mich kein Comic, Lara hat aber über die Narrative argumentiert. Aber ich denke auch, dass solche Definitionen sich verändern und nicht in Stein gemeißelt sind, weil ja auch das Medium selber sich verändert. Heute macht man im Bereich Comic eben Dinge, an die vor 20 oder 30 Jahren noch niemand gedacht hätte und deshalb ist "Comic" heute eben etwas anderes als damals.

  2. #2
    Wenn "massenhafte Verbreitung" ein ernstzunehmendes Kriterium wäre, dürfte es gar keinen Independent Comic Preis geben, weil sich independent und massenhafte Verbreitung zwar nicht theoretisch, aber praktisch ausschließen.
    Oder "periodisches Erscheinen" und Graphic Novels.

    Zitat Zitat von ThorstenK Beitrag anzeigen
    In der Wissenschaft ist es eigentlich so, dass man Begriffe erst einmal willkürlich definieren kann, sich dann nur an seine eigene Definition halten muss. Das kann durchaus Sinn machen, wenn man z.B. den Gegenstand einer Untersuchung eingrenzen will.
    Das hab ich mal gesehen, als jemand das Bild von Dämonen in Comics untersuchen wollte und dann erst mal Damönen selber definierte, was natürlich alle Comics mit einem anderen Dämonenbegriff ausschloß. Fand ich völlig idiotisch, aber offenbar halten Wissenschaftler sowas für akzeptabel. Ich bezweifle den Erkenntnisgewinn.

  3. #3
    Lukas Wilde
    Gast
    Den Mehrwert hast Du soeben selbst demonstriert: die Kriterien der Beliebigkeit liegen offen und jede Leser_in kann selbst entscheiden, wieviel man im praktischen Kontext damit anfangen kann (in Deinem Fall war das offenbar eher weniger).

    Zu Thorstens Joyce-Beispiel: wenn daran eine gewisse Spannung deutlich wird, dann liegt diese wieder mal im Konflikt von Alltagssprache mit Fachbegriffen. Der genannte Autor möchte "Kurzgeschichte" ja einfach als terminus technicus verstanden wissen, der durch bestimmte strukturelle Merkmale bestimmt ist. Wenn man diese anhand von Ulysses vorfindet, hat man womöglich wirklich interessante neue Dinge über das Werk herausgefunden. Nun klingt der Fachbegriff "Kurzgeschichte" - der genausogut eine lateinische oder frei erfundene Bezeichnung sein könnte - aus historischen Gründen eben "zufällig" ganz ähnlich wie die zwei deutschen Worte "kurze Geschichte". Und diese beiden Worte werden natürlich bereits im gewöhnlichen Sprechen verwendet (und zwar anders, als es der Autor in Anwendung auf 800 Seiten tut). Das sorgt für eine gewisse Komik, die aber rein innersprachlicher Natur ist.

    Daher - immer wieder - mein Plädoyer: wer anhand der Gegenstände, die (historisch und kulturell variabel und keinesfalls einheitlich) als "Comics" bezeichnet werden, einen genauen Fachbegriff entwickeln möchte, der brauch dazu auch einen (nicht bereits verwendeten) Fachbegriff. Oder eine Sprachpolizei, die von Haus zu Haus geht, und das Sprechen über Comics kontrolliert. Ansonsten landen wir immer und immer wieder bei mehr oder minder komischen Missverständnissen.

  4. #4
    Zitat Zitat von Lukas Wilde Beitrag anzeigen
    Den Mehrwert hast Du soeben selbst demonstriert: die Kriterien der Beliebigkeit liegen offen und jede Leser_in kann selbst entscheiden, wieviel man im praktischen Kontext damit anfangen kann (in Deinem Fall war das offenbar eher weniger).
    Der Fall wurde ja in der ComFor-Mailingliste diskutiert, und ich war der einzige, der es für eine dumme Idee hielt, das Ergebnis der Forschung durch die eigene Definition vorher festzulegen. Normalerweise geschieht das doch durch den, der die Forschung bezahlt.

  5. #5
    Lukas Wilde
    Gast
    "..das Ergebnis der Forschung durch die eigene Definition vorher festzulegen".
    Man kann Definitionen sprach- und begriffsgeschichtlich erforschen. Dann untersucht man, wie konkret gesprochen wurde und wird, das ist legitim. Dabei geht es dann aber nur noch am Rande um die Gegenstände selbst, eher um die Institutionen und Akteure, durch welche sie betrachtet werden. Ansonsten kann man *anhand* einer (zwangsläufig arbiträren) Definition etwas anderes erforschen (beispielsweise Gemeinsamkeiten, Entwicklungen, Unterschiede, Einflüsse... was einen eben interessiert). An beidem kann ein Geldgeber ebenso Interesse haben wie ein Privatgelehrter, der das in seinem "stillen Kämmerchen" verfolgt. Beides wird nichts daran ändern, dass Begriffe nur selektive Werkzeuge sind, die in konkreten Praxen zum Einsatz kommen, nicht mehr und nicht weniger.

  6. #6
    Eckart Sackmann
    Gast
    Ich habe 2007 im Auftrag von Brockhaus eine Definition verfasst, die in Deutsche Comicforschung 2010 abgedruckt wurde
    http://www.comicforschung.de/definitioncomic.pdf
    und die ich immer noch für praktikabel halte. "Noch praktikabel" sage ich deswegen, weil ein wichtiger Punkt dieses Essays lautet:

    "Definitionen des Comic sind veränderlich und entsprechen in der Regel der zeitgenössischen Auffassung und dem Evolutionsstand der Form. Die Geschichtsschreibung des Comic ist abhängig von der Definition."

    Ich möchte anregen, den ganzen Text zu lesen. "Noch praktikabel" sage ich auch, weil die meisten heutigen Comics immer noch dem Standard der Form folgen, wie er im 20. Jahrhundert entwickelt wurde. Die naheliegende Weiterentwicklung durch die Möglichkeiten etwa des Internets (Flexibilität der Leserichtung, Querverweise) werden bisher nur wenig verfolgt - offensichtlich ist es das Anliegen der meisten Autoren von Internet-Comics, etwas "Druckreifes" zu liefern.

    Praktikabel ist diese Defininition (in der Nachfolge der Einflüsse von Scott McCloud), weil sie es erlaubt, möglichst viele verschiedene Arten von sequentieller Bild-Erzählung einzuschließen. Dass es sogenannte Grenzfälle gibt, in denen der Betrachter selbst vor der Aufgabe steht zu entscheiden, ob er einen Comic vor sich hat oder nicht, macht die Angelegenheit reizvoll.

    Noch einmal: Es gibt keine jederzeit gültige und allumfassende Definition der Ausdrucksform Comic. Es kann sie auch gar nicht nicht geben.

    eck@rt

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