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ICOM Independent Comic Preis

Die Nominierten (Laudationes)

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Um was geht es in den Comics?
Die Jury weiß Bescheid.




Acid Accessories #0
von Daniel Andrew Wunderer (Text) und Sascha Vernik aka Revkin (Illustration)
(Selbstverlag)

Loveable Lizzy war einmal ein aufsteigender Stern unter den Influencer*innen der Kosmetikindustrie. Das Vorzeigehäschen von Bubbleglam Cosmetics. Mother’s wonder child. Die brave Tochter der Familiy Fondation. Nach einem transmission break von fünf Jahren entscheidet sich Lizzy allerdings, ihrer Family einen kleinen Anstandsbesuch abzustatten. Könnte ziemlich ugly werden, aber zum Glück gibt es eine üppige Auswahl an Filtern, die Lizzys kleinen Rachefeldzug in einen fancy Spaziergang durch Alice’s Wonderland verwandeln.

"Acid Accessories" von Daniel Wunderer und Revkin besticht durch eine knallige Farbpalette, abgedrehtes Charakterdesign und eine Story, die sich gewaschen hat. Nichts für schwache Nerven, aber sowas von nice!

Adroth Rian


Coming of H
von Hamed Eshrat
(Avant Verlag)

Eine deutsch-iranische Jugend in den westdeutschen Neunzigern, mit allem, was dazugehört: wie Hamed die erste Liebe erobert und wieder verliert, wie die Ehe der Eltern kriselt und der Vater dem Kulturschock psychisch nicht gewachsen ist, Skaten durch Betonburgen, Graffitisprayen am Bahndamm, Mixtape als Liebeserklärung, Kleinkriege mit Skinheads, Drogenexperimente unter Vermeidung von „H". Zugleich ist es ein Coming-of-Comiczeichner – mit leichten Strich, raffinierten Farbwechseln und ironischen Bildsymbolen, die das oft gehörte Narrativ dieser Generation erneuern und hintergründig kommentieren.

Nikolaus Gatter


Cowboy Jim 1–3
von Bertram Könighofer
(Selbstverlag)

Er geht gern in Saloons, spart am Adjektiv und sagt Thx, wenn ihm ein Bier gereicht wird. Wird hier in vorbildlicher Weise Witzenergie gespart? Der Schein trügt: Der Westernheld gerät mit dem Ku Klux Klan und Aliens aneinander, begleitet zwischen den Bierkonsum-Episoden den leibhaftigen Ambrose Bierce auf Schatzsuche durch das Canyonpanorama, wird von Wanderkakteen, preußischen Auftragskillern und einem Furzwitz-Bandenchef verfolgt – und jeder Cliffhanger lässt auf ein "Fortsetzung folgt" hoffen.

Nikolaus Gatter


Diebe und Laien
von Franz Suess
(Avant Verlag)

Geheimnisse, das Glück und die Verzweiflung der Vorstadtbewohner. Die Protagonisten sind keine strahlenden Siegertypen, als Dienstleister, Rentner, kleine Beamte, Malocher und Studenten ertragen sie ihr Leben mehr, als dass sie es erleben. Ein Stil, der an Kinderbuchseiten erinnert - nie mehr als vier Panels auf einer Seite, mit sparsamen Dialogen und seltenen, geringfügig erscheinenden aber entscheidenden Details. Zugleich wird in behutsamen, stillen Bildern dieser vier Geschichten ein Krimi erzählt, den die Polizei nicht aufzuklären weiß, der von Verlusten und Liebesverrat, von grundlosem Argwohn und gegenseitiger Erpressung handelt.

Nikolaus Gatter


Drinnen
von Sascha Dörp
(Selbstverlag)

Horror im Plattenbau - in 365-Panels kriecht die Geschichte von Oliver uns kalt den Rücken hoch. Der Junge zieht nach dem Tod des Vaters in einen Plattenbau, in dem das Grauen auf sein nächstes Opfer lauert. Wer wird überleben?

Sandra Nußer


Irrlicht
von Michael Mikolajczak
(Selbstverlag)

Wie sehr schmerzt es mich, dich verloren zu haben, geliebte Anna. Was ist hier bloß passiert? An meinen Händen klebt kein Blut! Nein. Du, und nur du allein hast mich dazu getrieben, hörst du? Oh, Anna! Wie sehr habe ich dich geliebt, Anna – und nun bist du für immer fort. Wie lange schon? Nur wenige Augenblicke, oder sind es doch Jahre, die unbemerkt an mir vorbeigezogen sind? Was ist real, was nur Einbildung? Bin ich wirklich hier? Bist du bei mir, oder sind wir an einem ganz anderen Ort? Sag es mir, Anna.

"Irrlicht" von Michael Mikolajczak ist nicht der klassische Comic, den man aus dem Bücherladen kennt. Der Einsatz von Einsatz von Schwarzweiß-Fotografie unterstreicht den Storyinhalt, bei dem es um Verlust, tiefsitzende Ängste, Trauerbewältigung und psychische Probleme geht, auf eine einzigartige und gelungene Art und Weise. Eine Arbeit, die den Leser überraschen und tief erschüttern kann, wenn man sich traut, sich darauf einzulassen.

Adroth Rian


Madame Choi und die Monster
von Sheree Domingo, und Patrick Spät
(Edition Moderne)

Nordkorea, späte 60er Jahre. Kim ist ein großer Filmfan. Weil sein Papa ein Diktator ist, bekommt Kim den Job als Leiter der Propaganda-Abteilung und der Filmstudios. Kim verehrt eine südkoreanische Schauspielerin, die in Asien seit den 60er-Jahren Kultstatus genießt: Choi Eun-hee, genannt Madame Choi. Kim liebt Rambo und den verschollenen Film "Bulgasari". Im bizarren Wahn lässt er Choi und den Filmregisseur Shin Sang-ok nach Nordkorea entführen, um den Monsterfilm als "Pulgasari" neu zu drehen. Choi und Shin ergeben sich augenscheinlich dem Zwang und verhalten sich kooperativ, können aber später zurück nach Südkorea fliehen.

Die Berliner Comic–Künstlerin Sheree Domingo und der Autor Patrick Spät haben mit "Madame Choi und die Monster" ein vielschichtiges, kluges und lehrreiches Werk geschaffen, welches aufzeigt, was irrsinnige Machtregime anrichten.

Sandra Nußer


Die Narrenpritsche
von Dirk Seliger, Gilbert Schwarz (Text), Sascha Wüstefeld und Jan Suski (Illustration)
(Edition MosaPedia)

Schrill und deftig zeigt das verzopfte Rokoko seine volkstümlich-blanke Kehrseite: Die Abenteuer Hans Wursts, Kasperles und ihrer Zunftgenossen, die Joseph Haydn den puppenspielenden Nichten Stinerl und Maruschka erzählt, werden zur Zeitreise in historischen Kostümen, mit Pferdegetrappel, sangeslustigen Besäufnissen und Marktgeschrei in ulkigen Mundarten. Sensenmann, Prinz Eugen und die Abrafaxe als Sternsinger laufen ebenfalls durchs Bild. Farblich wechseln die Panels zwischen grellbunt und lichtgrau, Kasperleszenen werden verhalten rötlich grundiert, schräge Perspektiven bringen Tempo hinein, dokumentarische Inserts - ein Stammbaum der Haydn-Familie - stillen den Wissendurst. Turbulenz ist Trumpf!

Nikolaus Gatter


Tiafe Gschichtn
von Jonboy Wotton, Robert Maresch, Tomáš Roller, Bert Bricht (d.i. Bertram Könighofer) und Robert Spieß
(Selbstverlag)

Eine aussterbende Art? In einer Welt, in der Instagram-Filter unsere Selbstwahrnehmung und glattgeleckten Friede-Freude-Eierkuchen Werbeplakate und politisch überkorrekte KI-Textgeneratoren unsere Denke beeinflussen, halten die Zeichner von "Tiafe Gschichtn" mit einer Totenarmee von Geistern, Zombies und Dämonen dagegen.

Wer auf derben, teils schmutzigen Humor steht, sollte sich "Tiafe Gschichtn" auf jeden Fall unter die Lupe nehmen. Aber Achtung! Man muss schon aufpassen, dass man sich beim Umblättern der Seiten nicht mit Blut bekleckert.

Adroth Rian


Tick Tock – Kultgewchichten 1
von Michael Mikolajcak (Storys) und Paolo Massagli, Holger Klein, Ernesto "Erggo" Rodriguez, Christian 'Zano' Zanotelli, Erik van Schoor, Sascha Dörp, Chris W. Jany und Jacek Piotrowski
(Kult Comics)

"Tick Tock" ist kein Werbecomic für ein chinesisches Video-Portal. "Tick Tock" ist viel eher das Geräusch, das eine alte Standuhr aus dem 18. Jahrhundert ertönen lässt. Was macht diese Standuhr aber so wichtig, dass sie in einem Comic auftritt? Nun, zum einen ist sie die Heimstatt der alten Hannah Beswick, die ihr Leben lang befürchtete, lebendig begraben zu werden. Der Uhr hätte sie jederzeit entkommen können, wenn sie tatsächlich noch gelebt hätte. Zum anderen birgt die Uhr ein Geheimnis, das jedoch nichts mit ihrem Klang als Zeitmesser zu tun hat. Aber es geht in "Tick Tock" nicht nur um Standuhren und ihre Bewohner, es geht auch um rücksichtslose Wespenköniginnen, gefährliche Fledermausviren und um Hänsel und Gretel. Es geht um jemanden, der aussieht wie Marilyn Monroe, nur mit FFP2-Maske, um den ersten Menschen, der auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurde, und um Entführung, Mord und Totschlag. Es geht um Pop Art, Blues und Elektrizität und um viele andere bemerkenswerte Geschehnisse und Zusammenhänge. Autor Michael Mikolajczak hat sich zusammen mit acht verschiedenen Künstlern in ebenso vielen Comic-Short-Storys dieser interessanten Themen angenommen und sie unterhaltsam und sehenswert zwischen zwei Comicbuch-Deckel gepresst.

Dirk Seliger



Die Preisverleihung fand am 8. Juni 2023 um 20 Uhr in der Münchner Stadtbibliothek Gasteig HP8 im Rahmen des Münchner Comicfestivals statt.



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Updated 16.06.2023 at 04:31 by ICOM Independent Comic Preis

Stichworte: laudationes
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